Mit spitzer Feder …

    Die unerträgliche Stille

    Kürzlich fragte mich jemand, was mein Geheimnis sei, dass ich (noch) so jung aussehe. Meine Antwort: «Gute Gene und Stille». Mein Gegenüber krauste die Stirn. Mit guten Genen konnte sie etwas anfange, aber mit Stille? Es ist doch so: Die Welt schläft nie. Alles wird immer lauter, immer greller, immer schneller. Das heutige Leben hingegen ist, als hätte uns jemand einen riesigen Trichter ins Gehirn gesteckt und würde pausenlos Tonnen an Tönen, Bildern, Daten, Anforderungen und Aufforderungen hineinkippen. Doch unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, es stammt aus einer Zeit, als es noch Lagefeuer gab und klare Sternenhimmel und echte Ruhe. Es ist einfach zu viel, viel zu viel. Die Folge: Uns kommt es zu den Ohren raus, wir sind gestresst, unkonzentriert, fahrig, erschöpft und werden krank.

    Doch wieso tun wir uns das an? Ganz einfach: Lärm ist Ablenkung. Wer tagsüber im Grossraumbüro von klingelnden Telefonen, dem neuesten Klatsch und Tratsch sowie dem Klappern der Tastatur überrannt wird und sich zugleich noch auf seine Arbeit konzentrieren muss, kommt nicht zum Nachdenken. Denn wenn sie zum Nachdenken kämen, würden viele Menschen merken, dass sie in Wahrheit mit ihrem Leben alles andere als glücklich sind, dass sie vielleicht an ihren eigentlichen Träumen, Wünschen und Werten vorbeileben, ihre grundlegenden Bedürfnisse zurückstellen oder sich vollkommen verloren fühlen. Dass sie Angst spüren, Schmerz und Trauer. All diese unangenehmen Emotionen sowie Gedanken lassen sich durch ständige Aktivität verdrängen – durch einen übertriebenen Aktionismus beispielsweise oder eben andauernden Lärm. Im ständigen Lärm schüttet der Körper ohne Pause die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus. Man befindet sich stets in Alarmbereitschaft und gönnt dem Körper sowie dem Gehirn keine Ruhepausen. Laute Geräusche lassen unseren Blutdruck ansteigen, erhöhen das Risiko für Herzinfarkte und beeinträchtigen unsere gesamte Gesundheit. Die Reize ununterbrochen verarbeiten zu müssen, belastet den präfrontalen Kortex nämlich sehr, unsere Aufmerksamkeitsspanne leidet darunter, ebenso unsere Fähigkeit, komplexe Dinge zu durchdenken, Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen. Je länger wir dem Gehirn keine Pause gönnen, desto müder und unmotivierter wird es und desto schneller lässt es sich ablenken.

    Stille ist also nicht nur für die physische, sondern auch für die psychische Gesundheit essentiell. Sie erlaubt einem, in die Selbstreflexion zu gehen, zu sich selbst und damit auch sein Glück zu finden. Nur in der Ruhe kann man negative Erlebnisse verarbeiten, alte Glaubenssätze auflösen und neue Träume oder Ziele finden. Was auch immer man mit der Ruhe anfangen möchte: Sie ist der Schlüssel zur Selbstreflexion und damit auch zum wahren Glück. Sie bringt in unsere westliche Gesellschaft die Bodenständigkeit, Dankbarkeit und Genügsamkeit zurück. Stille erlaubt einem herauszufinden, wer man ist, was man will und was man in seiner aktuellen Lebenssituation ändern muss.

    Als hochsensibler Mensch habe ich das schon länger erkannt und deshalb ein äusserst entschleunigendes Ritual eingeführt: Zwei bis drei Mal in der Woche, ziehe ich mich früh ins Schlafzimmer zurück, zünde eine Vanillekerze an und lasse Dämmerung, Dunkelheit, Duft und Ruhe auf mich wirken. Ich liege nur da – spüre, fühle, rieche, höre das Plätschern des Wassers des Brunnes vor meinem Fenster oder die klappernden Absätze auf den Bsetzisteinen, sinniere, denke und schlafe glücklich ein. Ebenso habe ich mir angewöhnt, zuhause wenig bis gar keine Musik zu hören. Es ist wunderbar – die Welt wird auf das Wesentliche und Essenzielle reduziert. Ich fühle mich rein und aufgeräumt und es macht mich glücklich.

    In diesem Modus können wir nämlich viel besser zugreifen auf unsere Emotionen und Erinnerungen, unsere Ideen und Gedanken. Reflektieren fällt uns leichter. Wir erkennen die Zusammenhänge in unserem Leben eher und können uns besser in andere Menschen hineinfühlen. Es ist, wie der schottische Philosoph Thomas Carlyle schrieb: «In der Stille werden die wahrhaft grossen Dinge geboren.» Dafür müssen wir jedoch den Stecker ziehen und uns von den Ablenkungen frei machen. Auch der deutsche klassische Philologe Friedrich Wilhelm Nietzsche hat erkannt: «Die grössten Ereignisse – das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden…»

    Für mehr wohltuende Stille müssen wir zum Glück nicht nach Sibirien auswandern. Was es braucht ist nur die Entscheidung, uns ab und zu bewusst dem Lärm zu entziehen. Also: Pssssst

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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