«Seltene Krankheiten gehen uns alle an»

    Manuela Stier hat den «Viktor Award» 2022 gewonnen. Die Unternehmerin gründete 2014 den gemeinnützigen Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK). Sie erzählt wie sie betroffene Familien auf ihrem Weg nachhaltig begleitet, sei es finanziell, mit Wissenstransfer oder Familien-Events.

    (Bilder: zVg) Manuela Stier, Initiantin und Gründerin des KMSK: Der Wunsch, etwas Sinnstiftendes zu schaffen, ist bei der Unternehmerin vor 10 Jahren gereift.

    Sie haben kürzlich den Viktor Award in der Kategorie «herausragende Persönlichkeit» gewonnen. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
    Manuela Stier: Seit 2012 setze ich mich mit grossem Engagement für die rund 350’000 Kinder und Jugendlichen mit seltenen Krankheiten ein. Nachdem vor zehn Jahren die Aufmerksamkeit für die betroffenen Familien sehr gering war, erachte ich es als einen Erfolg für die Familien, dass das Thema heute wahrgenommen wird und der Förderverein für die Familien ein effizientes Sprachrohr darstellt. Dass wir nun den Viktor Award erhalten haben, ist einfach grossartig. Es zeigt mir, dass unsere kontinuierliche Arbeit von dem Schweizer Gesundheitswesen wahrgenommen und geschätzt wird.

    Sie waren eine erfolgreiche Unternehmerin einer Branding- und Kommunikationsagentur, Herausgeberin des «Wirtschaftsmagazins» und haben dann 2014 den Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten ins Leben gerufen. Wie ist diese Idee entstanden?
    2012 durfte ich eine betroffene Familie aus dem Kanton Luzern kennenlernen. Das Schicksal des damals vierjährigen Jungen, der von der seltenen und leider tödlichen Krankheit Niemanpick C betroffen ist, hat mich sehr berührt. Durch die vielen Gespräche mit seinen Eltern habe ich enorm viel gelernt. Und da ich keine eigenen Kinder habe, entschied ich mich spontan, den Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten zusammen mit einem tollen Vorstand und Prof. Dr. Thierry Carrel als Präsident anfangs 2014 zu gründen.

    In der Schweiz sind rund 350’000 Kinder und Jugendliche von einer seltenen Krankheit betroffen. Was muss man sich darunter vorstellen?
    Rund sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung ist von einer seltenen Krankheit betroffen, dreiviertel davon sind Kinder und Jugendliche. 40 Prozent der Betroffenen erhalten mindestens eine Fehldiagnose. Die richtige Diagnose erhöht die Chance für die Verbesserung der Lebensqualität und ermöglicht den Zugang zu Forschung, Behandlung und Therapie. Im Durchschnitt dauert es fünf Jahre bis eine seltene Krankheit diagnostiziert wird. Nur gerade 350 von rund 8’000 seltenen Krankheiten können dank neuen Medikamenten wirksam behandelt werden.

    Unbeschwerte Momente geniessen: Der Austausch unter Gleichgesinnten, das «Verstandenfühlen» und das Miteinander sind für betroffene Familien ungemein wertvoll.

    Wieso sind nur so wenige Krankheiten erforscht?
    Durchschnittlich dauert die Entwicklung eines neuen Medikaments bis zu 13 Jahren. Da nur eines von zehn Medikamenten zur Marktreife gelangt, kann die Entwicklung eines Medikaments bis zu einer Milliarde Franken verschlingen. Drei von zehn Kindern mit einer seltenen Krankheit erleben ihren 5. Geburtstag nicht. Kinder benötigen üblicherweise andere Medikamente als Erwachsene, da sie oft anders auf Wirkstoffe reagieren. Erschwerend kommt hinzu, dass viele erkrankte Kinder so früh sterben, sodass Forschung und Entwicklung von neuen Wirkstoffen schwer oder gar nicht möglich sind.

    Wie unterstützen Sie die betroffenen Kinder und Familien?
    Auch finanziell werden die betroffenen Familien immer wieder vor Probleme gestellt: oftmals muss ein Elternteil die berufliche Tätigkeit einstellen oder reduzieren, um für das kranke Kind da zu sein – das Einkommen fehlt. Viele medizinische Leistungen und Hilfsmittel werden zwar, wenn auch häufig mit einem bürokratischen Kampf verbunden, von der Krankenkasse oder der IV übernommen. Dennoch gibt es immer wieder Situationen, in denen finanzielle Unterstützung fehlt, etwa bei nachweislich wirksamen Therapieformen, Genanalysen und Mobilitätsmitteln. In solchen Fällen hilft der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten unkompliziert und nachweislich nutzenstiftend. Seit der Gründung 2014 konnten wir die betroffenen Familien mit rund 1.9 Mio. Franken unterstützen.

    Wie sieht der Alltag der Betroffenen aus, was sind die grössten Herausforderungen?
    Die Geschichten von betroffenen Familien ähneln sich, auch wenn die jeweiligen seltenen Krankheiten so unterschiedlich sind. Der jahrelange Kampf bis zur Diagnose – im Schnitt haben die Betroffenen bis dahin sieben verschiedene Ärzte aufgesucht. Die Machtlosigkeit, wenn es keine Therapie gibt, die Verzweiflung ob dem ungewissen Krankheitsverlauf sowie finanzielle und administrative Herausforderungen. Diese Familien brauchen unsere Unterstützung, damit sie alle Energie für ihre kranken Kinder, für deren Geschwister und für die Bewältigung ihres beschwerlichen Alltags einsetzen können.

    Sie versuchen das Thema seltene Krankheiten in den Medien zu platzieren und die Bevölkerung darauf zu sensibilisieren. Mit welcher Strategie realisieren Sie dies und wie gut gelingt das?
    Mit unseren Sensibilisierungs-Kampagnen, die nur dank Partnern ermöglicht werden, den informativen Familienporträts, die wir den Schweizer Medien zur Verfügung stellen, rütteln wir die Öffentlichkeit auf und zeigen, wie wichtig das Thema seltenen Krankheiten ist. Seit 2021 sind 120 Medienbeiträge in Print, Online, TV und Radio in Kooperation mit dem Förderverein erschienen. Mit unseren vier Wissensbücher «seltene Krankheiten» in der Auflage von 10’000 haben wir zusätzlich ein Instrument geschaffen, das nicht nur für (neu) betroffene Familien wertvoll ist, sondern für Mediziner, Genetikerinnen, Therapeuten, IV-Stellen und zwischenzeitlich zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel ihrer Arbeit geworden ist. Die Bücher sensibilisieren, geben Einblick in die Herausforderungen der betroffenen Familien und fördern Verständnis.

     

    Rund sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung ist von einer seltenen Krankheit betroffen, dreiviertel davon sind Kinder und Jugendliche.

    Wie gross ist die Inklusion in der Gesellschaft für die Betroffenen?
    Wir haben gemeinsam mit der Sozialpädagogin Melanie Spescha das interaktive Kinderbuch «Inklusion – Keiner zu klein ein besonderer Freund zu sein» über Freundschaft und Behinderung lanciert. Das Ziel: die nachhaltige Förderung von Inklusion in Kita, Kindergarten, Schule und Gesellschaft. Dass mangelndes Verständnis, Unwissen und Vorurteile gegenüber Kindern mit besonderen Bedürfnissen eine grosse Belastung für betroffene Familien darstellen, hörte ich oft von unseren mehr als 700 KMSK Familien-Mitgliedern. Umso grösser war meine Begeisterung für das Inklusions-Programm und meine Motivation, dieses mit meinem «Knowhow zu unterstützen. Das Kinderbuch erzählt die berührende Geschichte von sieben tierischen Freunden über Freundschaft und Behinderung. Nebst ansprechenden Illustrationen erhält man online Zugang zu 60 passenden Spiel- und Bastelideen.
    www.minimovers.ch

    Was sind die nächsten Projekte des KMSK?
    Immer wieder hören wir von betroffenen Eltern, dass sie sich nach der Diagnose eine Ansprechperson gewünscht hätten, die sie an die Hand nimmt und durch den unübersichtlichen (bürokratischen) Dschungel führt. Gemeinsam mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, Institut für Gesundheitsökonomie und HES-SO Valais-Wallis, Haute Ecole de Santé, entwickeln wir seit 2021 eine webbasierte Wissensplattform für betroffene Familien und Fachpersonen, welche auf dieses Bedürfnis eingeht. Betroffene Familien erhalten übersichtliche Informationen über den Weg mit einem betroffenen Kind. Im Weiteren führen wir seit 2020 die KMSK Sport Challenge zugunsten von Kindern mit seltenen Krankheiten durch. Mit dabei sind mehr als 348 Sportler, Hobby Sportler und betroffene Familien.

    Welche Botschaft im Zusammenhang mit seltenen Krankheiten möchten Sie unserer Leserschaft mitgeben?
    Seltene Krankheiten gehen uns alle an. Hinschauen, nicht wegschauen und nachfragen, was das Kind hat und ob man die Familie unterstützen kann. Betroffene Mütter gehen weit über ihre Belastbarkeit, wenn es um ihr betroffenes Kind geht. Als Arzt ist es wichtig, den Eltern zuzuhören, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Und wer sich finanziell engagieren möchte, soll sich doch auf www.kmsk.ch informieren. Es gibt viele Möglichkeiten, mit dabei zu sein, als Helferin, als Gönner oder Spenderin. Wir kennen die Bedürfnisse der betroffenen Familien und setzen mit diesem Wissen effizient neue Projekte um, die einen grossen Nutzen für die Familien bieten und nachhaltige Wirkung erzeugen.

    Interview: Corinne Remund

    Weitere Informationen:
    www.kmsk.ch

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